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Was ist eigentlich Empathie?

Heute möchte ich Sie gerne auf einen Artikel von Mona Kino aufmerksam machen, der unter dem Titel: „Mein aufrichtiges Mitgefühl!“ im Wiesbadener Kurier in der Ausgabe 13.07.2019 erschienen ist:

In letzter Zeit sind viele Artikel erschienen, die sich mit den Vor- und Nachteilen von zu viel oder zu wenig Mitgefühl, Achtsamkeit und Empathie beschäftigen. Die einen sagen, dass einen zu viel Empathie oder zu viel Achtsamkeit – wie eine böse Stiefmutter aus Grimms Märchen – unweigerlich in den Burn-out treibe. Die anderen beklagen, das uns das Mitgefühl abhanden gekommen sei. Ich habe ein 36-tägiges Empathietraining absolviert, und ich kann sagen: Weder dem einen, noch dem anderen ist so.

Sehe ich mir die Übersetzungsmöglichkeiten im Wörterbuch an, tauchen im Englischen drei völlig unterschiedliche Begriffe für Mitgefühl auf: compassion, sympathy, commiseration, die wiederum etliche unterschiedliche Bedeutungen im Deutschen haben: Barmherzigkeit, Mitleid, Erbarmen, Sympathie, Anteilnahme, Beileid und Verständnis. Schlägt man Empathie nach, steht da neben Mitgefühl noch Einfühlungsvermögen. Das ist durchaus verwirrend.

Mitfühlen bedeutet erst einmal, Gefühle von Anderen zu teilen. Diese Gefühle teilen wir meist unbewusst. Wie überhaupt achtzig Prozent unserer Kommunikation unbewusst abläuft. Nur ab und an tauchen sie in unserem Bewusstsein auf. Wenn wir unbewusst mitfühlen, fallen die zwischenmenschlichen Grenzen ungefähr so wie die Grenzen zwischen einem Neugeborenen und seiner Mutter fallen. Wir fühlen sozusagen die Gefühle des Anderen und sind auf unbewusster Ebene ein Mensch, statt zwei. Wir unterscheiden also nicht mehr zwischen den eigenen Gefühlen und denen des anderen. Wir sind das Gefühl, und wir spiegeln dieses Gefühl, indem wir zum Beispiel anfangen, zu weinen, wenn wir jemanden sehen, der traurig ist oder leidet.

Die Lage des anderen scheint mir misslicher als meine

Wenn uns das Mitfühlen bewusst wird und wir zugleich innerlich einen Schritt zurücktreten, können wir benennen, aus welchen Gefühlen dieser Zustand zusammengesetzt ist. Meist ist es eine Mischung aus Mitleid und dem starken Bedürfnis, dem Anderen in seiner misslichen Lage zu helfen. Ich fühle dann zwar wieder mein eigenes Gefühl, Mitleid, die Lage des Anderen scheint mir aber misslicher als meine eigene. Damit werte ich dann allerdings den Anderen ab und mich auf. Überspitzt gesagt sehen wir auf den Leidenden herab, wenn wir denken: „Der Arme, dem geht es ja so viel schlechter als mir. Ich kann ihm helfen, mir geht es ja so viel besser.“

Jeder weiß vermutlich, wie es sich anfühlt, wenn der Leidende die angebotene Hilfe vehement ablehnt: „Nee, lass mal, ist schon gut.“ Diese Ablehnung bezieht sich allerdings meist nicht auf die Hilfe, sondern auf den Teil der Botschaft, die als Abwertung empfunden wird: „Das schaffst du nicht!“

Im Gegensatz zu diesen eher unbewussten Zuständen ist Empathie – Einfühlung – ein Zustand, in dem ich mir zur gleichen Zeit sowohl meiner eigenen Gefühle wie auch der Gefühle des Anderen bewusst bin.

Neulich zum Beispiel nach einem heftigen Streit mit unserem Sohn. Er verschwand türenknallend in sein Zimmer. So weit, so gut. Dann hörte ich ihn weinen wie ein kleines Kind. Ich spürte sofort den starken Impuls, ihn zu trösten, weil es ja überhaupt nicht meine Absicht gewesen war, dass er sich wegen des Streits jetzt so schlecht fühlte. Statt diesem ersten Impuls nachzugeben, hielt ich noch einen Moment länger inne und spürte dann ganz deutlich, dass unter meinem Mitleid Hilflosigkeit lag: nicht zu wissen, was ich außer diesem naheliegenden Trösten jetzt tun könnte. Ich ging zu ihm ins Zimmer, setzte mich neben ihn aufs Bett. Dann sagte ich, dass ich mich grade wohl genauso hilflos fühle, wie er und dass es nicht meine Absicht war, ihn so traurig zu machen. Und anstatt mich, wie sonst, wegzuschubsen, legte er nach der längsten Minute meines Lebens seine Hand in meine und sagte: „Ich wollte dich auch nicht so wütend machen. Wenn du magst, leg dich doch einfach nur kurz mal neben mich.“ Ich bewertete weder seine Gefühl, noch meine als „schlimmer“ oder „besser“. Auch nicht als gleichwertig. Ich begegnete ihnen einfach mit gleicher Würde. Ich introjizierte nichts auf mich wie zum Beispiel „Gott, was bin ich nur für eine schlechte Mutter“. Und projizierte nichts auf ihn wie: „Oje, der Arme“. Stattdessen war ich mit ihm im Austausch, im Dialog, darüber, wie ich mich fühle und, was ich denke, wie es ihm geht. So bekam ich ein Feedback dazu, was er sich in diesem Moment tatsächlich wünschte.

Genau hier kommt Achtsamkeit ins Spiel, mit der wir uns Dingen, aber auch Gefühlen bewusst werden können. Diese Achtsamkeit können wir in zwei Richtungen nutzen: nach innen und nach außen.

Die schlechte Nachricht ist, dass wir in unserer Leistungs- und Informationsgesellschaft meistens beim unbewussten Mitfühlen steckenbleiben, wie ich es in den ersten beiden Beispielen beschrieben habe – ganz einfach deshalb, weil wir mit unserer Achtsamkeit hauptsächlich im Außen auf Empfang oder Sendung sind. Mit dem Kopf schon beim nächsten Termin oder beim nächsten Punkt auf der To-do-Liste, und wenn dann auch noch der Kaffee umkippt und der Toaster explodiert, werden wir wütend. Aber diese Wut ist nur ein Zeichen dafür, dass wir schon vor zwei, drei Stunden unsere Grenzen überschritten und unser Bedürfnis nach einer Pause übergangen haben. Wir haben sie ignoriert und weiter gemacht, weil der Tisch oder der Haushalt ja noch voller unerledigter Dinge ist, und es uns fast scheint, dass wir den Job verlieren, wenn wir mal eine Stunde früher nach Hause gehen. Wenn dann auch noch ein Mitarbeiter, Kind, Mann, Frau, Klient, Supermarktverkäufer mit seiner schlechten Laune zu uns kommt, dann lassen wir uns auch davon anstecken und reagieren – wiederum meist unbewusst, abermals mit Wut.

Die gute Nachricht ist, dass wir – Achtsamkeit sei Dank – lernen können, uns unserer Gefühle und der Gefühle der Anderen bewusst zu werden. Empathie kann man lernen, indem wir unsere angeborene Möglichkeit nutzen, uns bewusst unserem Körper, Atem, Herzen, unserer Kreativität und unseren geistigen Aktivitäten zuzuwenden. Wenn Achtsamkeit ein Muskel wäre, dann haben wir diesen gewissermaßen im Außen übertrainiert. Als würden wir Jogging ohne Stretching machen. Wir sind dann im zwischenmenschlichen Kontakt sehr gut auf das, was Außen und beim Anderen passiert eingeschossen, die Verbindung zu unserem Inneren, zu dem, was wir wollen, haben wir verloren. Das Gleiche passiert aber auch in die entgegengesetzte Richtung. Richte ich dauerhaft oder häufiger meine Achtsamkeit nach Innen und vernachlässige den Kontakt zum Außen, dann ist das wie Stretching ohne Jogging – und ich bin genauso wenig im zwischenmenschlichen Kontakt wie vorher.

Haben wir Eltern, die sich ihrer Gefühle, Impulse, Bedürfnisse bewusst sind, haben wir Empathie nur verlernt. Das Erlernen ist dann so, wie wenn wir eine Sprache reaktivieren, die wir als Kind schon mal gesprochen haben. Jeden Tag kommt eine weitere alte Vokabel hoch und gesellt sich in die Sätze, die zunehmend geschliffener und genauer werden. Und so können wir uns nicht nur in alltäglichen Situationen differenzierter mitteilen, sondern auch in herausfordernden Situationen.

Haben wir Eltern, die sich ihrer eigenen Gefühle und Bedürfnisse nicht bewusst sind, dann ist das schwerer, aber nicht hoffnungslos. Man muss dann das, was sie einem nicht beigebracht haben, auch noch mit lernen. Das ist dann eher so, als hätte man irgendwann mal Russisch, Japanisch oder Chinesisch gehört, müsse jetzt aber neben den Vokabeln auch noch die Grammatik und die Schriftzeichen dafür lernen. Sprich, es dauert ein bisschen länger. Aber auch hier gelingt uns irgendwann der Dialog in der neuen Sprache, in alltäglichen und herausfordernden Situationen.

Aus meiner Sicht geht es deshalb nicht darum, ob mehr oder weniger Achtsamkeit richtig oder falsch ist, sondern darum, sich über das Unbewusste bewusst zu werden. Und das lässt sich mit ganz einfachen Körper- oder Atemübungen in Kombination mit Dialogübungen trainieren.

Schuld an meiner Wut ist nicht die Frau an der Kasse

Dann ist sogar die Kassiererin nicht mehr schuld daran, wenn ich wütend bin, weil sie nicht die zweite Kasse an einem heißen Tag wie heute aufmacht. Ja, das ist sehr ärgerlich, wenn sie nicht sieht, dass die Schlange sich ins vermeintlich Unendliche zieht. Und ja, ich bin wütend, weil ich deshalb nicht schnell genug zu Hause bin. Wenn ich mir darüber bewusst bin, gibt mir das die Möglichkeit, mich zu entscheiden, was jetzt notwendig ist. Also beschließe ich, das mit der Wut auf die Kassiererin zu lassen – sie sieht mich eben einfach nicht. Und wende mich stattdessen meinem Ärger zu. Ich spüre überall auf meiner Haut den Dreck des Tages kleben, der sich bei der Hitze angesammelt hat. Ich denke, kein Wunder, dass ich explodiert bin, ich schwitze ja schon seit Stunden. Abkühlen also. Als ich dran bin, freue ich mich schon so auf die Abkühlung, dass ich wieder lächeln kann. Ich sage: „Puh, ganz schön heiß heute!“ Sie lächelt und sagt: „Ja. Na, dann, nichts wie ab unter die Dusche.“

Die Autorin: Mona Kino

Mona Kino, Jahrgang 1966, ist Drehbuchautorin, zertifizierte Familienberaterin und Empathietrainerin.

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